Chronik

Römerstadt - Kurstadt - Industriestadt: Die Entwicklung Bad Cannstatts vom Altertum bis heute

Die Entwicklung Bad Cannstatts vom Altertum bis heute Bad Cannstatt ist der älteste und bevölkerungsreichste Stadtbezirk Stuttgarts. Die einstmals römisch-keltische Ansiedlung zählt heute über 70.000 Einwohner in 18 Stadtteilen, was ungefähr der Größe einer Stadt wie Schwäbisch-Gmünd entspricht. Hier gibt es die größten Veranstaltungsflächen und Publikumsmagnete sowie die einzige historische Altstadt in der Landeshauptstadt.

Bekannt wurde die einstige Oberamtsstadt auch durch ihre industrielle Entwicklung mit einer Reihe innovativer Erfindungen sowie für das zweitgrößte Mineralwasservorkommen Europas. Ca. 22 Millionen Liter aus 19 Quellen täglich sind der nutzbare Teil. Ungefähr dieselbe Menge geht darüber hinaus ungenutzt in den Neckar. Man kann es unter anderem im Mineralbad am Kursaal und an den vielen Brunnen der Stadt erleben.

Darüber hinaus wird und wurde es aber auch anderweitig genutzt. So zeugen viele archäologische Funde davon, dass das Mineralwasser schon im Altertum geschätzt wurde. Die Römer waren bekannt für ihre Badekultur und so ist es nicht verwunderlich, dass es hier Überreste von Römerbädern gibt. Entstanden ist die römische Siedlung durch das Kastell am heutigen Hallschlag mit 480 berittenen Legionären aus Spanien, die einen Knotenpunkt von fünf Römerstraßen absicherten. An seiner Stelle steht heute die Reiterkaserne, die 1910 bezogen wurde und heute ein großes Medien- und Stadtteilzentrum ist.

Die erste urkundliche Erwähnung von „Canstat ad Neccarum“ datiert um das Jahr 700. Im 14. Jahrhundert wurden Stadtrechte und Marktrechte verliehen und die Stadt gedieh weiter. Das Baderhaus vor der Stadt zeugte ebenso von medizinischen Anwendungen im Mittelalter wie die Tatsache, dass die Stadtkirche Cosmas und Damian geweiht wurde, den Schutzheiligen der Apotheker und Ärzte.

Eine besondere Zeit war das 18. Jahrhundert. Damals entstand im Mühlkanal der Freihafen Cannstatt. Die Fischer- und Schifferzunft war in der Altstadt ansässig und sie führte bereits 1717 das erste Fischerstechen durch. Dieses wird noch heute alle zwei Jahre im Juli durch den Brauchtumsverein Kübelesmarkt Bad Cannstatt veranstaltet. Zugleich wurden viele Mühlen an Mineralbrunnen gebaut, die auch eigens dafür gebohrt wurden. Sie nutzten das Mineralwasser und nicht das Neckarwasser, weil es nicht gefriert und damit einen ganzjährigen Mühlenbetrieb ermöglichte. Selbst die Mühlräder der Stadtmühle am Neckar wurden mit Mineralwasser eisfrei gehalten. Eines ihrer Mühlwerke wurde später zum zweiten Wasserkraftwerk Deutschlands umfunktioniert.

Nach einer verheerenden Hungersnot, dem Jahr ohne Sommer 1816, stifteten König Wilhelm I. und Königin Katharina 1818 das landwirtschaftliche Fest zu Cannstatt. Heute ist es besser bekannt als das Cannstatter Volksfest. Die Landbevölkerung sollte sich damals über Anbautechniken austauschen können. Das gilt als Grundlage für das Landwirtschaftliche Hauptfest, eine Messe, die alle vier Jahre parallel stattfindet. So entstand nichts Geringeres als das mit 320 Buden und Fahrgeschäften größte Schaustellerfest der Welt. „Wasenzeit“ ist aber auch beim größten Frühlingsfest der Welt, den Open-Air-Konzerten großer Weltstars oder vielen anderen Veranstaltungen.

Der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaute Kursaal ist das Wahrzeichen der Blütezeit Cannstatts, umgeben vom idyllischen Kurpark mit seinem historischen und exotischen Baumbestand. In dieser Zeit wurde das Kurviertel vom europäischen Adel und vom Bürgertum bevölkert. Der französische Dichter Honoré de Balzac war einer der prominentesten Urlauber. Natürlich stieg er im Hotel Hermann ab, dem ersten Hotel am Platz mit internationalem Ruf. Auch die bessere Gesellschaft aus dem benachbarten Stuttgart ließ es sich nicht nehmen, allsonntäglich in Cannstatt zu flanieren. Während der so genannten Badestadtzeit entstand u. a. die erste Hautklinik Deutschlands und der Erreger der spinalen Kinderlähmung wurde von Jakob von Heine entdeckt.

1855 ist der erste Fastnachtsumzug belegt, was die vielleicht älteste evangelische „Fasnet“ bedeutet. Die hiesige Narrenzunft, der Kübelesmarkt Bad Cannstatt, wurde 1924 gegründet und ist Mitglied in der Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte (VSAN), wodurch auch das Bad Cannstatter Brauchtum Teil des immateriellen nationalen Kulturerbes der UNESCO ist. William Cail, der spätere Präsident des englischen Rugby- und Fußballverbandes, schrieb in seinen Memoiren, dass er 1865 als 16jähriger in Cannstatt Fußball gespielt hatte. Das macht den Wasen zum ersten Fußballplatz Deutschlands. Dem folgte die Gründung des Cannstatter Fußballclubs, heute Cannstatter Tennisclub (CTC). Der Fußballverein Stuttgart und der Kronenclub Cannstatt fusionierten 1912 zum VfB Stuttgart, der bis heute in Cannstatter Farben spielt.

Das ehemalige Privatanwesen von Gottlieb Daimler ist heute Teil des Kurparks. Er kam hierher, weil er in der Kurstadt seine Gesundheit pflegen konnte. Das Mineralwasser hatte also auch hier seinen Einfluss geltend gemacht. Die Werkstatt im ehemaligen Gewächshaus ist heute ein kleines Museum. Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach bauten hier das erste Fahrzeug der Welt mit Verbrennungsmotor, den Reitwagen. Vom Seelberg, wo Daimler auch sein erstes Werk baute, startete das erste Luftschiff mit Verbrennungsmotor und die beiden Erfinder unterhielten am Neckar auf Höhe der Altstadt eine Bootswerft. Die Daimler-Villa wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört und nie wieder aufgebaut.

Weltweit bekannte Firmen wie Kärcher, Stihl, Mahle, Flex, Werner & Pfleiderer, Ritter Sport, Frigeo (Ahoj Brause) und viele mehr fanden hier ihren Anfang mit Erfindergeist und Tatendrang. Die wohl wichtigste Erfindung aus schwäbischer Sicht aber machte Robert Kull mit der Spätzlepresse. Große Erfinder und Pioniere gingen hier zur Schule, unter ihnen Ernst Heinkel und Hellmuth Hirth, die später den Wasen nutzten, um ihre Flugversuche zu unternehmen. So wurde das Volksfestgelände zum ersten Flugplatz der Region Stuttgart.

Ein weiteres wichtiges Jahr war 1905. Die Oberamtsstadt Cannstatt und die im Talkessel eingeengte Residenzstadt Stuttgart schlossen einen Vereinigungsvertrag. Hiervon profitierte Stuttgart infrastrukturell, Cannstatt finanziell und baulich. Ein weiteres wichtiges Ereignis war die Verleihung des Titels Bad im Jahr 1933. Die einst schillernde Kurstadt mit ihren Mineralquellen und -Bädern kam spät, aber zurecht zu diesem Prädikat.

Nach dem zweiten Weltkrieg baute Albert Schöchle die Wilhelma, einst Privatgarten von König Wilhelm I., heimlich und konsequent zum einzigen zoologisch-botanischen Garten Deutschlands aus. Dabei hatte er mit Widerständen aus der Landesregierung zu kämpfen, die er mir viel Schläue und visionärem Weitblick überwand. Die Wilhelma ist durch ihn heute außerdem der drittgrößte Zoo der Bundesrepublik, der sich derzeit auf Platz fünf in der Rangliste der besten Zoos Europas befindet. Die einst vom König genutzte Quelle und die Auquelle am Neckar versorgen die Wilhelma bis heute mit Brauchwasser. So ist sie das größte Mineralbad, wenn man als Badegäste Seelöwen und Elefanten zählt.

Nicht zuletzt besitzt Bad Cannstatt auch eine bunte Kulturszene. Hermann Hesse ging hier zur Schule, Ferdinand Freiligrath, Oskar Schlemmer oder Hermann Metzger schufen hier ihre Werke. Hans Bayer, besser bekannt als Thaddäus Troll, wuchs in der Marktstraße auf und Willy Wiedmann schuf seine berühmte gemalte Bibel direkt beim Jakobsbrunnen. Auch die Musikszene kommt nicht zu kurz, Organisationen wie Cultur in Cannstatt, Musik am 13., das Cannstatter Kulturmenü und viele mehr veranstalten hochkarätige Konzerte und Kulturveranstaltungen.

Bad Cannstatt ist heute eine lebendige und bunte Stadt in der Stadt. Sie ist so vielfältig wie die Menschen, die in ihr leben und viele weitere Aspekte, wie die Einkaufsmöglichkeiten, die Gastronomie, die vielen Veranstaltungen oder auch die Lage am Neckar machen sie sehr l(i)ebenswert.

Stefan Betsch,
Stadtführer

Stuttgart-Bad Cannstatt, im August 2023

© 2024 Pro Alt-Cannstatt – medienhandwerk.com